Die Frage stellen sich Journalisten immer wieder: Ist beim Online-Journalismus die Aktualität eigentlich wichtiger als ein ausführlicher Artikel der auch die Hintergründe aufzeigt?
Der Niederländer Rob Wijnberg betreibt etwas, was nach Meinung der meisten deutschen Medienmacher überhaupt nicht funktionieren kann: Er ist Herausgeber der Online-Zeitschrift „De Correspondent“, die vor allem Reportagen, Kolumnen und Hintergrundberichte veröffentlicht. Auf tagesaktuelle Nachrichten wird komplett verzichtet. Mit diesem Konzept konnte er innerhalb einer Woche 15.000 Leser gewinnen und über eine Million Euro einnehmen.
Dabei lernt in Deutschland jeder Journalistenschüler, dass Leser im Internet vor allem auf Aktualität setzen und lange Hintergrundartikel meiden. „Das Ende eines Artikels erreichen die wenigsten“, meint etwa der langjährige Leiter der Hamburger Journalistenschule Wolf Schneider. Nur die Ersten, eine Nachricht online stellten, würden auch beachtet.
Der Drang nach ständiger Aktualität treibt mitunter seltsame Blüten. Besonders populär sind derzeit allerlei „Liveticker“. Ob NSU-Prozess, Flug „MH 370“ oder die Krise in der Ukraine: Zu beinahe jedem Thema, zu dem es etwas zu berichten gibt, existiert mindestens ein Ticker. Und wenn es einmal nichts Neues gibt, wird trotzdem weitergetickert.
Die im Internet über allem stehenden Klickzahlen geben den Verlagen scheinbar recht: Dank des Livetickers zum Skiunfall des ehemaligen Formel-1-Rennfahrers Michael Schumacher schaffte es „Focus Online“ nach Berechnungen des Branchendienstes Meedia auf Platz 2 der am häufigsten aufgerufenen Nachrichtenseiten im Januar 2014. Damit erreichten die Münchner erstmals mehr Leser als „Spiegel Online“.
Tatsächlich dürften die Klickzahlen aber eher das Werk einer gezielten Suchmaschinenoptimierung (SEO) sein und weniger das echte Interesse der Leser nach Aktualität widerspiegeln. Da die Tickerseiten bei Google oder Bing auf den ersten Plätzen gelistet werden, klicken automatisch mehr potenzielle Leser die jeweilige Seite an. Ob sie dabei das finden, was sie auch suchten, erklären die Klickzahlen nicht.
Tatsächlich erwarten die Leser heute nicht nur abgeschriebene Pressemitteilungen und umformulierte Agenturberichte. Bei einer Umfrage des Journalisten Konrad Lischka auf Twitter gaben viele User an, dass sie vor allem gut recherchierte Artikel, Hintergründe und Zusammenhänge auf deutschen Online-Nachrichtenseiten vermissten. Oftmals wurde hinsichtlich der gewünschten Artikellänge der Vergleich mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ herangezogen. Zwar werden auf „Spiegel Online“ hin und wieder Artikel aus dem gedruckten Spiegel veröffentlicht, aber die meisten Storys stammen von einer eigenen Online-Schriftleitung, die unabhängig von der Print-Redaktion arbeitet.
Viele überregionale Zeitungsverlage sind der Meinung, dass das Internet keinen Platz für ausführliche Geschichten bietet. Sie befürchten, dass sie durch eine Online-Veröffentlichung nicht genug verdienen, um die Recherchekosten zu finanzieren. Hintergrundartikel und mehrseitige Reportagen sind deshalb ausschließlich in der gedruckten Tageszeitung zu finden. Wieso onlineaffine Leser dann aber plötzlich zur gedruckten Ausgabe einer Zeitung oder eines Magazins greifen sollten, um die gewünschten Hintergrundartikel zu lesen, bleibt ein Geheimnis der Verlage.
Tatsächlich sieht die Realität anders aus: Praktisch alle Printmedien verzeichnen einen starken Rückgang der Absatzzahlen. Sowohl „Der Spiegel“ als auch die „Bild-Zeitung“ büßten innerhalb der letzten zehn Jahre jeweils über ein Drittel der Auflage ein. Die meisten Leser greifen also nicht zum Druck-Erzeugnis, sondern suchen sich Online-Quellen, um die gewünschten Informationen zu erhalten. Das können Blogs sein, soziale Netzwerke oder eben ein Hintergrundmagazin wie „De Correspondent“.
Ob sich auch in Deutschland so ein solch unaufgeregter Journalismus im Internet behaupten kann, dürfte sich schon in den nächsten Wochen zeigen. Ähnlich wie Ron Wijnberg mit seinem „Correspondent“ haben 28 deutsche Journalisten das Projekt „Krautreporter“ gestartet. Bis zum 13. Juni wollen sie von mindestens 15.000 Unterstützern einen Mitgliedsbeitrag in Höhe von 60 Euro pro Jahr einnehmen, um die Online-Zeitschrift zu realisieren. Wie sein niederländisches Pendant soll der „Krautreporter“ sich auf Hintergrundberichte und Reportagen spezialisieren und auf Werbung komplett verzichten. Die erste Resonanz stimmt positiv: Nach nur 24 Stunden haben bereits knapp 2.000 Personen das Projekt unterstützt.