Am 10. März 2012 ging der »Zugmonitor« der »Süddeutschen Zeitung« online. Dabei handelt es sich um eine interaktive Grafik, die anzeigt, ob Züge in Deutschland pünktlich sind. Der Zugmonitor war das erste große Datenjournalismus-Projekt, das in Deutschland auf breite Resonanz stieß. Es zeigt, wie sich Journalismus verändert.
Seit dem Zugmonitor folgten viele weitere Datenprojekte auf sueddeutsche.de. Unter der Rubrik »DataGraph« werden inzwischen alle Datenjournalismus-Projekte der Zeitung zusammengefasst. Bis heute sind es fast 50. Nicht nur Zugverspätungen werden hier visualisiert, sondern auch Wahlen, die wirtschaftliche Entwicklung oder Lobbybeziehungen von Politikern.
Die SZ macht diese Projekte nicht, um neue journalistische Stilformen zu testen, sondern weil sie notwendig im Kampf um die Leser sind. So schreibt Sueddeutsche.de-Chef Stefan Plöchinger in seinem Buch »Wie innovativ Journalismus sein muss«, dass datenjournalistische Projekte zwar unglaublich teuer sein mögen. Gleichzeitig müsse man sie aber durchführen, zum einen aus journalistischen aber eben auch aus wirtschaftlichen Gründen. »In einem sehr dichten Wettbewerb der Internetangebote« helfe nur »publizistische Differenzierung«. Nur so könne man herausstechen und das Publikum überzeugen.
Dabei wird allerhand Neuland betreten. Der sogenannte »Europa-Atlas«, in dem die Lebensverhältnisse der Bürger in den einzelnen europäischen Ländern veranschaulicht werden, entstand beispielsweise in Zusammenarbeit mit der Universität Augsburg. Die Anwendung wurde im Rahmen der Bachelorarbeit von einem Studenten programmiert. Die SZ probiert also auch hier neue Möglichkeiten aus.
Vieles an den Projekten wirkt heute noch experimentell. Die Bedienung des »Europa-Atlas« ist beispielsweise noch nicht wirklich ausgereift und teilweise schwierig. Bereits im vergangenen Jahr forderte der Journalist Lorenz Matzat daher, dass in den Redaktionen künftig nicht nur Programmierer, sondern auch Usability- und Interfacedesigner sitzen müssten. Nur so könnte eine ansprechende Bedienoberfläche für die Multimediaprojekte der Online-Medien geschaffen werden.
Die »Süddeutsche Zeitung« war die erste überregionale Zeitung, die in Deutschland das Thema Datenjournalismus einer breiten Öffentlichkeit praktisch näher brachte. Inzwischen haben viele andere Zeitungen und Magazine nachgezogen. Die Berliner »taz« etwa zeigt Übergriffe auf Politiker und Anschläge auf Parteibüros in Deutschland in einer interaktiven Karte. Im Rahmen des Projekts »Hochschulwatch« werden zudem Verbindungen zwischen Wirtschaft und Hochschulen offengelegt. So wird gezeigt, welche Unternehmen sich wie an deutschen Universitäten engagieren und Einfluss nehmen. Neben Stiftungen, Stipendien und Sponsoring werden hier Vertreter aus der Wirtschaft genannt, die im Hochschulrat der jeweiligen Universität sitzen.
Auch bei »Spiegel Online« wird Datenjournalismus immer wichtiger. Bereits im vergangenen Jahr hatte dessen Chef vom Dienst Matthias Streitz in einem Interview mit dem Datenjournalisten Timo Stukenberg angedeutet, man wolle dieses Thema jetzt forciert angehen. In fast allen Resorts gebe es bereits eigene Datenjournalisten. Streitz sprach dabei auch ein Problem an, das vor allem am Anfang auftrat: Die neue Darstellungsform musste erst entdeckt werden. So habe man beispielsweise bei der Berichterstattung über »Wikileaks« zu stark auf textliche Aufbereitung gesetzt und zu wenig bedacht, wie eine grafische oder multimediale Aufbereitung aussehen könnte. Dies wolle man in der Zukunft verbessern. Zudem müssten datenjournalistische Projekte langfristig geplant werden, sodass bei kurzfristigen Geschehnissen eine entsprechende Darstellung derzeit noch nicht möglich sei.
Seit dem Interview ist viel geschehen bei »Spiegel Online«. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Datenjournalismus-Projekten. Das Größte davon überrascht: die Berichterstattung über die Fußball-Bundesliga. Die Hamburger greifen hierfür auf die Daten des Dienstleisters opta zurück. In der Datenbank werden nicht nur die Daten zu jedem einzelnen Spieler eingepflegt, sondern es gibt fast alles, was irgendwie während eines Spiels gezählt werden kann: Erfolgreiche und erfolglose Pässe, Dribblings, Flanken, Torschüsse, Ballsicherungen und Abseitsstellungen werden ebenso erfasst, wie die Raumaufteilung oder vom Torwart gefaustete Bälle. Mit einem Klick auf die entsprechende Schaltfläche werden diese Statistiken dann visuell dargestellt.
Eines kann die Analysesoftware auf »Spiegel Online« aber noch nicht: Automatisch Spielberichte verfassen. Das klingt wie eine Zukunftsvision, aber ist doch bereits heute Realität. Roboterjournalismus heißt diese neue Stilform im Onlinejournalismus, die seit etwa 2009 existiert. Damals wurden im Rahmen des Projekts »Stats Monkey« in den USA erstmals automatische Spielberichte zu Baseball-Spielen erzeugt. Aus dem »Stats Monkey« ist inzwischen das Unternehmen »NarrativeScience« entstanden, das zum Marktführer in Sachen Roboterjournalismus geworden ist. So entwickelte das Unternehmen einen speziellen Bot, der Aktienmärkte analysieren und Marktanalysen schreiben kann. Inzwischen verfasst dieser Bot bei Forbes ein eigenes Blog, indem Aktienbewertungen vorgenommen werden.
Lorenz Matzat etwa denkt, dass in Deutschland beim Fußball der Roboterjournalismus seinen großen Durchbruch schaffen werde. Grund sei, dass Sportereignisse besonders einfach statistisch zu erfassen seien. Aus den gewonnenen Daten könne dann ein entsprechender Spielbericht geschrieben werden. Dabei könnte sogar einfließen, wie laut die Fans bei gewissen Spielsituationen jeweils jubelten. Doch selbst wenn in Zukunft einzelne Spielberichte durch Algorithmen geschrieben werden, eines wird ein Roboter so schnell nicht können: Interviews nach dem Spiel führen und auswerten.
Roboter können aber dabei helfen entsprechende Routineaufgaben zu übernehmen und menschliche Journalisten dadurch entlasten. So kann zum Beispiel Recherchematerial automatisch sortiert und getaggt werden. Durch Spracherkennung und entsprechende Algorithmen werden Interviews automatisch transkribiert. Und Meldungen der verschiedenen Nachrichtenagenturen pflegt der Computer automatisch in das Content-Management-System des Verlags ein.
Dabei sollten Journalisten sich aber nicht blind auf die Arbeit der elektronischen Helfer verlassen. Rechercheergebnisse sollten beispielsweise stets selbst überprüft werden. Auch beim Umschreiben von Agenturmeldungen oder Pressemitteilungen ist das menschliche Gehirn gefragt: Denn entsprechende Marketingsprüche kann ein Algorithmus nur schwer selbst erkennen. Lorenz Matzat sagte daher auch auf der Messe »re:publica 2014«, dass bei aller Liebe zum Roboterjournalismus stets der Pressekodex gelten müsse. Insbesondere das Gebot der wahrheitsgetreuen Wiedergabe und Überprüfung von Fakten stehe hier an erster Stelle.
Datenjournalismus und Roboterjournalismus gehen also Hand in Hand. Im Redaktionsalltag sollte dennoch nicht zu viel auf diese neuen Formate geschaut werden. Gewiss, es mag eine Arbeitserleichterung durch automatisches Zusammentragen von Daten und Sortieren geben. Wer sich aber zu sehr auf die Hilfe von Maschinen verlässt, verlernt das journalistische Handwerk. Im Mittelpunkt guter Reportagen stehen nur selten Fakten, sondern Menschen. Und die trifft man am besten persönlich, um ihre Geschichte aufzuschreiben.