Ist es eine menschliche Ureigenart, voyeuristisch veranlagt zu sein und die Geschichten der Mitmenschen zu verschlingen, wie die Brotzeit am Mittag? Oder haben sich die Medienformen, die mithilfe von menschlichen Geschichten berichtet werden, erst im Rahmen pseudo-realistischer Dokusoaps entwickelt?
Ich kenne die Antwort nicht, aber gerne habe ich im Bereich „Storytelling“ recherchiert. Denn meine Fragen sollen heute sein: Was macht eine gute Story aus? Wie ergründet man, was die Leser interessiert? Wie schafft man einen Spannungsbogen mit Niveau?
Es erinnert ein wenig ans Kochen, denn eine gute Geschichte braucht viele Zutaten und ein ausgeklügeltes Rezept. In einer Story gibt es Figuren, die miteinander interagieren und mit- oder gegeneinander handeln. Was jetzt klingt wie Teilnahmebedingungen für einen Kurzgeschichten-Wettbewerb, ist ebenso im klassischen Journalismus gängige Praxis.
Im Journalismus geht es den Lesern darum, von Menschen zu lesen, die etwas erlebt oder durchlebt haben, die eine Vision haben oder für ein Ziel kämpfen, das sie gemeinsam oder in der Gruppe zu erreichen versuchen. Vorbei ist die Zeit, in der das Nonplusultra einer guten Geschichte das Zitat am Anfang ist. Das kann sein, muss es aber nicht.
„Storytelling“ fordert mehr. Es möchte Ungewöhnliches zu Tage fördern, möchte sprachliche sowie inhaltliche Spannungsbögen kreieren und dabei sich einer ganzen Bandbreite an Literarischem, Dramatischen und Sprachlichen bedienen. „Storytelling“ erinnert an die Reportage, doch ist sie auch Kunst. Die Kunst, dem Leser in Form eines Porträts oder eines Features die Geschichte miterleben zu lassen.
Interessant sind Geschichten von Menschen. Die Termine, auf die freie oder angestellte Journalisten pilgern, bleiben allerdings dieselben. Nur die Arbeit kann mit dem Arbeitsauftrag „Storytelling“ durchaus komplizierter und damit auch aufwendiger werden. Ein Praxisbeispiel: Eine Gemeinderatssitzung kann immer wieder interessante Details für die Bevölkerung bieten, wie beispielsweise die Gebührensatzung für den örtlichen Kindergarten. Der gängige Weg ist es, über die neuen Gebühren – im Vergleich zur vorangegangenen Satzung – zu berichten.
„Storytelling“ wäre hingegen mit Eltern zu sprechen, die Hintergründe zu beleuchten, warum die Gebühren erhöht wurden, und vielleicht beim Recherchieren herauszufinden, dass die Kindergärtnerin selbst höhere Gebühren bei der Kommune gefordert hat. Der Grund: Sie lebt in einem anderen Ort und zahlt für ihren eigenen Nachwuchs gut 50 Prozent mehr, als die Eltern für den Kindergarten zahlen, in dem sie arbeitet.
Der Sprung ins kalte Wasser hat sich bewährt. Das heißt: Am Anfang einer guten Geschichte steht bereits der erste Höhepunkt. Die wichtigen Hintergrundinformationen werden dann im nächsten Abschnitt nachgeliefert. Anschließend folgt der Spannungsbogen wieder einem Aufwärtstrend – mit Kurs auf den nächsten Höhepunkt.
An dieser Stelle ist wohl ein kurzer Exkurs zum Niveau von Spannungsbögen angebracht. Mord, Totschlag oder eine Intrige sind die Könige der Spannungsbögen – in der Yellow Press. Die Regenbogenpresse, oder auch Sensationspresse genannt, zielt hierbei auf die Gier der Menschen nach Tragödien ab. Niveau wird aber hier an manchen Stellen vergebens gesucht.
Tipp: Ein Spannungsbogen kann auch sprachlich erzeugt werden und muss nicht auf Kosten von Menschen gehen. Soll heißen: Wer die Kunst beherrscht, seine Leser mit ausgewählten Worten mit auf die Reise von Geschichtenhöhepunkt zu Geschichtenhöhepunkt zu nehmen und dabei weiß, wie und wann er welches Zitat zu positionieren hat, der hat „Storytelling“ begriffen und gelernt umzusetzen. Eine Geschichte muss nicht zwingend reißerisch sein, sondern kann auch einfach mit Worten fesseln.
Yellow-Press, Magazine, Regenbogenpresse – hohe Auflagen und anscheinend liest sie dennoch niemand!
Langeweile im Wartezimmer. Ein kurzer Blick auf das dargebotene Angebot an Lesestoff und prompt greift die Hand zu einem Magazin, welches am Kiosk eitel übersehen wird: das bunte Boulevard-Blatt. „Seriöse“ Journale wie Spiegel, Focus und Co werden auf dem Weg zur Arbeit oder an öffentlichen Plätzen studiert – die „Freizeit Revue“ dagegen lieber im Privaten. Oder eben im Wartezimmer. Hier darf ungehemmt gelesen werden, was in der Glamour-Welt von Heidi Klum, Prinz William oder Dieter Bohlen passiert. Im Wochentakt erleben die Stars und Sternchen stets neue herzerweichende Geschichten, kleine wie große Dramen und spektakuläre Skandale. Zumindest wenn man den Schlagzeilen Glauben schenken will. Das Erfolgsrezept der Klatsch- und Tratsch-Presse ist simpel: farbenfrohe Bilder für das Auge – leichte Kost für das Gehirn. Die kurzen Beiträge bestechen durch simple Wortsprache, große Lettern, gespickt mit Superlativen und wachsweichen Adjektiven – Fremdwörter gibt es keine. Dafür jede Menge Bilder.
Wie auch bei der populären Tageszeitung „Bild“ – die bei Nachfrage keiner liest – sind die Auflagen dieser Blätter beachtlich. Etwa 70 Wochen- und Monatshefte des Genres „Regenbogenpresse“, deren Aufmachung und Inhalt starke Ähnlichkeit aufweisen, sind auf dem deutschen Markt vertreten. Wöchentlich werden alleine über 800.000 Ausgaben des Burda-Magazins „Freizeit Revue“ verkauft. Von der „Neuen Post“ (Bauer Verlag) gehen jede Woche ca. 670.000 Exemplaren über die Ladentheke. Insgesamt sind es rund neun Millionen Klatsch-Magazine, die gekauft werden. Jede Woche!
Die Leserschaft dieser Formate ist überwiegend weiblich, über 50 Jahre und der unteren bis mittleren Gesellschaftsschicht zugehörig – und diese verlangt nach immer neuen Geschichten.
Nun geschieht es nicht jeden Tag, dass eine Prinzessin aus dem europäischen Hochadel ihre Schwangerschaft verkündet oder ein berühmter Wettermoderator wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung öffentlich an den Pranger gestellt wird. Solche Geschichten sind ein gefundenes Fressen für die Redakteure und werden hingebungsvoll ausgeschlachtet. In seichten Zeiten (der Regelfall), in denen der Leser mit Meldungen wie „Jörg Pilawa – Liebes-Sensation – Nach Jahren der Trauer fand seine Mutter (73) einen neuen Mann …“ (Freizeit Blitz) überrascht wird, greifen die Titelmacher gerne in die Trickkiste. Dann wird wild spekuliert über die vernachlässigten Vaterschaftspflichten eines Oliver Pocher, über Gerüchte einer Trennung von Angelina und Brad oder über das geheime Liebesglück von Prinzessin Stephanie. Harmlose Schnappschüsse werden dann mit lauten Schlagzeilen und emotionsgeladenen Beiträgen versehen.
„Sie sorgen für die Bilder, ich sorge für den Krieg“, soll schon zur Jahrhundertwende der amerikanische Großverleger William R. Hearst von seinen Korrespondenten in Havanna gefordert haben. Er wollte den Übergriff der spanischen Kolonialherren auf kubanische Zivilisten zu einem weltbewegenden Sensationsereignis stilisieren. Mit Lügen, Intrigen und Gerüchten schaffte es Hearst, seine Magazine zu füllen und ein Medienimperium zu erschaffen. Was zählte, war die Auflage. Nicht die Wahrheit.
Seit dem Aufkommen der Human-Interest-Geschichten Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich an der Praxis, Halbwahrheiten und Gerüchte in bunten und billigen Magazinen zu verbreiten, kaum etwas geändert. Alles, was der neugierigen Leserschaft ein erstauntes Kopfschütteln abringt, wird gedruckt. Der investigative Klatsch-Reporter besticht nicht durch seine präzisen Recherchen, er beeindruckt mit seiner Kreativität, Möglichkeiten als Wahrheiten zu formulieren. Ebenfalls beliebtes Mittel zur Steigerung der Auflage ist es, mit aufsehenerregenden Titel-Schlagzeilen Erwartungen zu schüren, die der Text nur mit einer unspektakulären Meldung unterfüttern kann. Aktuelles Beispiel: Das Klatsch-Magazin „Die Aktuelle“ verkündete vier Wochen vor dem errechneten Geburtstermin: „Prinzessin Kate: Das Baby ist da!“ Doch es ist nicht der lang ersehnte royale Nachwuchs. Eine Freundin der Herzogin ist Mutter geworden. Dieses Detail wird auf der Titelseite verschwiegen.
Ohne sie geht es nicht. Die zahllosen Profi- und Hobby-Paparazzi liefern die Grundlage für fantastische Geschichten . Auf der Jagd nach spektakulären Bildern kennt der eingefleischte Paparazzo kaum Tabus. Für das perfekte Foto heftet er sich, wie ein Stalker, hemmungslos an die Fersen seiner „Opfer“ und blitzt auch angesichts schrecklicher Szenen, wie des Unfalltodes von Lady Di, munter weiter. Solche Extrembeispiele haben das schlechte Image der Promi-Fotografen verstärkt: gierig, lästig, respektlos.
Gerade in Los Angeles und London, wo sich die Stars und Starletts tummeln, konkurriert auch eine riesige Schar von Paparazzi um den Schnappschuss des Jahrhunderts. Oder zumindest um ein brauchbares Bild für eine prägnante Titelstory. Aus diesem, gepaart mit vagen Spekulationen, bastelt dann der Redakteur seinen aufsehenerregenden Leitartikel. Der Wahrheitsgehalt ist Nebensache – Hauptsache die Schlagzeile treibt die Verkaufszahlen nach oben. Dafür müssen die Yellow-Press-Verlage, insbesondere in den USA und Großbritannien, immer wieder Schadensersatzklagen in Millionenhöhe zahlen. Rufmord, Verleumdung und Ehrverletzung kann teuer werden.
In Deutschland geht es gemäßigter zu. Wehrt sich ein Boris Becker oder eine Uschi Glas gerichtlich gegen publizierte Unwahrheiten, so werden diese entweder richtiggestellt – abgedruckt im letzten Drittel des Magazins – , eine Gegendarstellung wird veröffentlicht oder Schadensersatz bereitwillig gezahlt. Selten übersteigt die Summe den fünfstelligen Bereich.
So mancher Klatsch- und Tratsch-Reporter fühlt sich, trotz geringer Sanktionen, seiner Pressefreiheit beraubt. Michael Graeter etwa, Münchens bekanntester Promi-Reporter, beklagte sich in einem Spiegelinterview über die wachsende Kontrolle durch Medienanwälte. Fast jedes Bonmot, fast jedes amüsante Detail dürfe nicht gedruckt werden, aus Angst vor den Zensoren.
Lauscht man den Äußerungen solch selbsternannter Medienwächter, so ist auch nachvollziehbar, weshalb so mancher Klatsch-Journalist um seine Freiheit bangt. Der Hamburger Rechtsanwalt Prof. Dr. Ralf Höcker, juristischer Berater von Jörg Kachelmann, nimmt seine Rolle als Medienzensor ernst: „Ich schütze Unternehmen, Prominente und sonstige Personen, die plötzlich ins Licht der Öffentlichkeit geraten, vor rechtswidriger Berichterstattung. Ich arbeite also vor allem juristisch. Doch auch die aktive Pressearbeit der Medienanwälte wird immer professioneller. Medienanwälte wildern vor allem bei Themen mit juristischem Bezug sehr erfolgreich im Revier der PR-Agenturen. Denn die verstehen nichts von Jura.“ (Vgl.: Süddeutsche Zeitung, “Kampagne gegen Herrn Kachelmann”, Christina Maria Berr, 24.01.2011.) Hier geht es offensichtlich darum, die eigenen Schützlinge ins rechte Licht zu rücken.