Julian Reichelt war stinksauer auf Daniel Steil. Was er macht, sei nichts anderes als »digitale Hehlerei«, echauffierte sich der Chefredakteur von Bild.de am 4. Juni 2014 über dessen »Focus Online«-Kollegen bei turi2. Was war da geschehen?
Reichelt ist als Chefredakteur von Bild.de maßgeblich für die Umsetzung der von Konzernchef Mathias Döpfner vorgegebenen Digitalstrategie verantwortlich. Wichtiges Standbein dabei ist auch »Bild Plus«, die Bezahlschranke der größten Boulevardzeitung Deutschlands. Bei »Bild Plus« sollen exklusive Geschichten veröffentlicht werden, die nur gegen Bezahlung verfügbar sind.
Und hier fing Reichelts Problem an: Daniel Steil, seit 2011 Chefredakteur von »Focus Online«, hatte nämlich offenbar für einen solchen Zugang bezahlt. Und den nutzte er nicht nur für sich, sondern ließ seine Redakteure die eigentlich exklusiven »Bild Plus«-Geschichten umformulieren und auf der Website des zu Burda gehörenden Wochenmagazins veröffentlichen. So konnte sie dann jeder auf »Focus Online« lesen, ohne dass die »Bild« daran verdiente. Später stellte Julian Reichelt zufrieden fest, dass »Focus Online unsere Plus-Inhalte nicht mehr komplett ausschlachtet, sondern nur noch unsere Nachrichten, die wir hinter der Paywall haben, sauber zitiert.« Das sei auch völlig in Ordnung und üblich.
Früher, als es noch echte Leitmedien gab, waren die Zeitungen und Verlage froh darüber, wenn sie von der Konkurrenz zitiert wurden. »Der Spiegel« veröffentlicht noch Vorabmeldungen zu einzelnen im neuen Heft erscheinenden Geschichten. Einziges Ziel dabei ist, dass möglichst viele Konkurrenzpublikationen das eigene Blatt zitieren, was zu einer höheren Relevanz führt.
Doch im digitalen Medienzeitalter wirken Leitmedien wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Der Begriff wurde ursprünglich auch nur für klassische Printmedien verwendet. Nach der Definition des Medienwissenschaftlers Jürgen Wilke sind Leitmedien die Presseerzeugnisse, die von Journalisten bei der Recherche besonders häufig herangezogen und zitiert werden. Für das Jahr 1993 ermittelte er durch eine Umfrage unter Journalisten eine Reihenfolge der am meisten zitierten Medien. Das Ergebnis war wenig überraschend: Sowohl die »Süddeutsche Zeitung« als auch die »FAZ« und die »Zeit« landeten auf den oberen Plätzen. Unangefochten an der Spitze stand damals »Der Spiegel«. Über zwei Drittel der befragten Journalisten gaben an, das Nachrichtenmagazin regelmäßig zur Recherche zu nutzen.
Als die Umfrage 2004 wiederholt wurde, waren die Ergebnisse dieselben. Zwar zeichnete sich ab, dass immer mehr Journalisten vor allem im Internet recherchieren, aber um »Spiegel«, SZ oder FAZ kam auch damals niemand herum.
10 Jahre später führt ein anderes Medium die Liste an. Nach einer Auswertung der PR-Agentur »Scholz & Friends Agenda« und »PMG Presse-Monitor« wird die »Bild«-Zeitung heute am häufigsten zitiert. Und das nicht etwa im Panorama- oder Vermischtes-Resort, sondern in den wichtigen Bereichen Politik und Wirtschaft. Ernst Elitz spricht daher im Magazin »The European« auch davon, dass die »Bild«-Zeitung das neue Leitmedium Deutschlands sei. Und wie er findet vollkommen zu Recht: Die Boulevardzeitung sei heutzutage in allen führenden Redaktionen Deutschlands morgendliche Pflichtlektüre. Für ihre Recherchen zum Skandal um Alt-Bundespräsident Christian Wulff sei sie sogar mit dem renommierten Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet worden.
Während also bei den klassischen Printmedien die Anzahl der Zitate mit dafür ausschlaggebend ist, wie wichtig andere Medienmacher eine Zeitung oder Zeitschrift einordnen, scheinen im Onlinezeitalter andere Gesetze zu gelten. Julian Reichelt war nämlich überhaupt nicht froh darüber, dass »Focus Online« seine »Bild Plus«-Geschichten übernahm. Er warf seinem Kollegen Daniel Steil sogar offen Diebstahl geistigen Eigentums vor. Auf Nachfrage erklärte Reichelt zwar, dass das Verhalten Steils juristisch nicht angreifbar sei, aber »klauen« würde Steil trotzdem: »Natürlich macht er genau das und nichts anderes. Klauen, klauen, klauen und an die Reichweite denken.«
Reichweite ist heute das, was Onlinemedien voneinander unterscheidet. Während die »Bild« noch auf eine Bezahlschranke setzt, versucht es »Focus Online« mit klassischer Werbung. Um aber möglichst viele Anzeigenkunden zu gewinnen, wird eine hohe Reichweite benötigt. Julian Reichelt äußerte gegenüber dem Branchendienst turi2, dass »Focus Online« hierzu eine »Google-Optimierung« vornehme. Hierdurch lande ein User, wenn er nach einem bestimmten Thema suche, zuerst bei Focus.de und nicht bei Bild.de. Belege dafür, dass »Focus Online« tatsächlich eine solche Suchmaschinenoptimierung durchführt, gab Reichelt aber nicht an. In der Tat kann »Focus Online« aber auf einige Reichweitenerfolge verweisen. Im Januar 2014 hatte die Website nach den Zahlen der »Arbeitsgemeinschaft Online Forschung« (AGOF) erstmals mehr Besucher als »Spiegel Online«. Lediglich das Online-Angebot der »Bild«-Zeitung liegt noch vor den Münchnern. Der Geschäftsführer von »Tomorrow Focus Media«, Oliver Eckert, führte dies aber auf die gute Arbeit von »Focus Online« in den sozialen Netzwerken zurück. Auf Facebook hätten die verschiedenen »Focus«-Seiten zu Themen aus Politik, Wirtschaft und Sport bereits über 1,5 Millionen Fans. Zudem sei Qualität und Tempo der Berichterstattung für den Erfolg von »Focus Online« verantwortlich. Inzwischen dankte »Focus Online« seinen zwei Millionen Fans.
Und so dürfte sich in Zukunft das Bild der Leitmedien erneut ändern. Wichtig wird nicht mehr nur die Verbreitung sein, sondern auch, ob ein Artikel bei der ständig ansteigenden Informationsflut überhaupt gefunden werden kann. Das von »Focus Online« praktizierte Verlinken auf fremde Beiträge hilft dabei dem Ausgangsmedium, eine bessere Platzierung bei den Suchmaschinen zu erzielen. Einzige Voraussetzung hierfür ist freilich, dass die Inhalte auch tatsächlich frei verfügbar und nicht hinter einer Paywall versteckt sind. Vielleicht wird irgendwann dann auch Julian Reichelt weniger sauer auf seinen Ex-Kollegen Daniel Steil sein, sondern vielmehr stolz auf das neue Leitmedium »Bild«.
Mehrere Generationen lang hat das Fernsehen unsere Wahrnehmung der Realität geprägt. Wenn es um bedeutende geschichtliche Ereignisse der letzten 50 Jahre geht, dann verbinden die meisten Menschen diese mit den entsprechenden Fernsehbildern. Dazu zählt die erste Mondlandung ebenso wie der Mauerfall oder die Anschläge vom 11. September 2001.
Das Fernsehen verbindet Menschen in einem kollektiven Erinnerungspool. Seine Wirkungskraft hat sich in den letzten Jahren sogar noch weiterentwickelt. Es scheint nicht übertrieben zu sein, dass viele Menschen ihre generelle Weltsicht, ihre Meinungen und Ansichten, davon abhängig machen, wie sich das Fernsehen zu bestimmten Themen positioniert. Viele sehen diese Position zunehmend gefährdet, wobei dieser Entwicklung nicht durchweg negativ bewertet wird. Als Leitmedium der öffentlichen Kommunikation scheint das Fernsehen durch das Internet mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt zu werden. Daher ist die Frage, ob das Fernsehen im digitalen Zeitalter noch eine Zukunft hat, durchaus berechtigt.
Was zeichnet das Fernsehen als Leitmedium aus?
Das Fernsehen war das Leitmedium der letzten Jahrzehnte. Zu verdanken hat es diese Stellung sicherlich vor allem der Tatsache, dass es die Merkmale der vorherigen Leitmedien wie Presse, Hörfunk und Film erfolgreich kombinierte. Somit wurden deren Wirkung spürbar optimiert. Außerdem hat das Fernsehen, wie kaum ein Leitmedium vorher, die Aufgabe bewältigt, sich stetig weiter zu entwickeln und sich zu aktualisieren. Dadurch wurde es den veränderten Ansprüchen anderer Generationen von Zuschauern gerecht. Viele Zuschauer machen kein Geheimnis daraus, dass das Fernsehen in Teilen sogar dazu dient, ihren Alltag beziehungsweise ihre Woche zu strukturieren. Das beginnt beim sogenannten “Frühstücksfernsehen” der privaten Sendeanstalten und endet lange nicht bei der nach wie vor sehr populären “Tagesschau” der ARD um 20:00 Uhr.
Dennoch hat das Fernsehen heute im Vergleich mit den neuen Medien eine Schwäche, die gerade junge Zuschauer bemängeln. Beim Internet wird ihnen die zeitgemäße Möglichkeit der Interaktivität geboten.
Fernsehen und Internet – Koexistenz oder Verdrängungskampf?
Das Internet hat in den letzten Jahren im Vergleich zu den Printmedien und eben auch zum Fernsehen stark aufgeholt. Es gilt vielen Nutzern inzwischen als primäres Nachrichtenmedium. Das Fernsehen schien unter dieser Entwicklung lange Zeit nicht zu leiden. Zusammen mit der gestiegenen Nutzungsdauer des Internets stieg laut der ARD/ZDF-Onlinestudie auch die Nutzungsdauer des Fernsehens. Zurückzuführen ist dies auf die Tatsache, dass die Medienzeit der meisten Menschen insgesamt gestiegen ist. Allerdings ist gerade bei Jugendlichen erkennbar, dass eine deutliche Verschiebung der Prioritäten zugunsten des Internets stattgefunden hat. In der Gruppe der 14- bis 29-Jährigen betrug die durchschnittliche Mediennutzungsdauer am Tag 134 Minuten Fernsehen und 218 Minuten Internet. Die Sendeanstalten versuchen diesem Trend zu entsprechen, indem sie ihre Sendungen vermehrt in Mediatheken im Internet zur Ansicht bereit stellen. Denn eines scheint sicher: Der Aspekt der Strukturierung des Alltags durch das Fernsehen schwächt sich derzeit stark ab und hat unter Jugendlichen eigentlich überhaupt keine Bedeutung mehr. Das Internet ermöglicht den jungen Nutzern das Zusammenstellen eines Programmplans, der den persönlichen Bedürfnissen in optimaler Weise entspricht.
Anpassen und Überleben
Auch wenn das Angebot medialer Online-Angebote stetig wächst – ein vollständiger Ersatz für das Fernsehen ist noch nicht in Sicht. Aber die Weichen für eine Ablösung aus der herausgehobenen Position als Leitmedium scheinen gestellt. Das lässt sich auch daran ablesen, dass Aktivitäten und Vorgänge in sozialen Online-Medien inzwischen oft ein deutlich stärkeres mediales Echo verursachen, als die im Fernsehen gesendeten Ereignisse.
Die eingangs gestellte Frage, ob das Fernsehen im digitalen Zeitalter noch eine Zukunft hat, kann trotz dieser Entwicklung klar mit ja beantwortet werden. Es ist davon auszugehen, dass es noch für eine lange Zeit bei einer Parallelnutzung der beiden Medien bleiben wird. Das Fernsehen muss sich allerdings damit abfinden, dass es seine herausragende Stellung, die es über mehrere Jahrzehnte innehatte, abgeben muss. Das Fernsehen wird sich in einer von den Online-Medien dominierten Medienlandschaft verändern und noch stärker anpassen müssen. In der Zukunft entstehen vielleicht neue Mischformen. Dann steht das Fernsehen zwar nicht mehr im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit, aber es wird, genau wie die Zeitung oder das Buch, zumindest überleben.