Simon Unge ist außer sich. »So ein Scheißhaufen«, ruft er. Simon Unge heißt eigentlich Simon Wiefels und ist YouTuber. Bis kurz vor Weihnachten betrieb er auf der Video-Plattform die beiden Kanäle »Ungespielt« und »Ungefilmt«. Mit »Scheißhaufen« meint Unge das Netzwerk »Mediakraft«, bei dem er 2013 einen Zweijahresvertrag unterzeichnete. Doch die Liebe währte nicht lange, wie Unge am 20. Dezember 2014 in einem Abschiedsvideo sagt, dass er »die schwerste Entscheidung meines Lebens« nennt. Tatsächlich gab es in letzter Zeit einige kontroverse Diskussionen rund um die YouTube-Netzwerke. Ein Überblick.
Eigentlich lief alles so gut: Unge gehörte zu den erfolgreichsten YouTubern in Deutschland. Angefangen hatte der 24-Jährige im Jahr 2011 mit Videos über Longboards, Dreadlocks und veganes Essen. Nachdem die Videos zunächst nicht zum gewünschten Erfolg wurden, begann er zwei Jahre später mit »Let’s Plays«. Dabei werden Videospiele gespielt und gleichzeitig unterhaltsam kommentiert. Auf seinem Kanal »Ungespielt« präsentierte Unge seitdem vor allem das Spiel »Minecraft« und machte sich so in der Szene einen Namen. Daneben veröffentlichte er auf dem Kanal »Ungefilmt« Videos aus seinem Privatleben. Auch Interviews mit Freunden und anderen YouTubern waren dort zu sehen.
In einem gemeinsamen »YouTuber-Haus« lernte Unge dann andere Videoblogger kennen, die bereits zum »Mediakraft«-Netzwerk gehörten. Daher habe er sich gedacht, dass es sinnvoll sei, dort ebenfalls zu unterschreiben, sagt er in dem Video. Er habe auf Synergien und Unterstützung gehofft, sagt er rückblickend. »Mediakraft« habe sich hierfür angeboten.
YouTube-Netzwerke sind am ehesten mit Plattenlabels vergleichbar. Die Netzwerke erhalten von den Videobloggern entsprechende Verwertungsrechte und unterstützen den Künstler zum Beispiel bei der Vermarktung. Dafür erhalten sie einen Anteil an den Werbeeinnahmen, die der YouTube-Kanal erzielt. Branchenüblich sind dabei, je nach Bekanntheit des Künstlers, etwa 10 bis 30 Prozent. Neben der Firma »Mediakraft Networks« gibt es unter anderem auch die deutschen Netzwerke »Constantin Film«, »kbshowTV« und »IDG Germany«.
Für Simon Unge hat dieses Modell offensichtlich nicht funktioniert, denn schnell kehrte bei ihm Ernüchterung ein. Mediakraft habe ihn nicht ausreichend unterstützt, sagt er heute. So habe er zusammen mit einigen anderen YouTubern um Sponsoring für eine kostspielige Tour durch Deutschland mit dem Longboard gebeten. Trotz mehrmaliger Nachfrage habe das Netzwerk darauf nicht reagiert. Erst nachdem die Deutsche Telekom die Tour unterstützt habe, sei auch Mediakraft aktiv geworden. In diesem Zuge habe das Unternehmen sogar bereits veröffentlichte Videos gelöscht.
Zwar habe er versucht durch persönliche Gespräche die Situation zu ändern, doch hätten diese nicht zum gewünschten Erfolg geführt. »Die Situation nach den Gesprächen war genauso wie zuvor«, sagt Unge. Daher habe er sich entschieden »den juristischen Weg zu gehen« und habe über seinen Anwalt den Vertrag mit »Mediakraft« kündigen lassen. Künftig möchte Unge nur noch Videos auf dem Kanal »Unge« publizieren, der aus »rechtlichen Gründen« einem Dritten gehört, wie er in einem Interview mit »Spiegel Online« erklärte.
Beim Netzwerk »Mediakraft« sieht man die Situation erwartungsgemäß anders. In einer Pressemitteilung bestritt der CEO von »Mediakraft«, Spartacus Olsson, dass das Unternehmen Unge keine Kooperationen ermöglicht hätte. Tatsächlich habe man dem 24-Jährigen verschiedene Leistungen angeboten, die Unge aber ausgeschlagen habe. Dazu zähle auch die »Hilfe bei der Organisation der Longboard-Tour«. Dass Unge das Sponsoringangebot der Deutschen Telekom angenommen habe, sei vertragswidrig erfolgt. Überhaupt gebe es »klare Vertragsregeln«, an die sich das Unternehmen halte. Ein einseitiges Kündigungsrecht für Unge sei darin nicht vorgesehen. Zudem schädige der YouTuber durch sein Verhalten viele Mitarbeiter von »Mediakraft«. »Wenn unsere Verträge nicht eingehalten werden, würden wir unsere Geschäftsgrundlage in verantwortungsloser Weise gefährden«, schreibt Olsson.
»Mediakraft« nehme die geäußerte Kritik sehr ernst. Nach wie vor unterstütze man täglich die eigenen Partner, sei es bei der Schaffung neuer Inhalte oder bei der Wahrung der entsprechenden Schutzrechte. Insgesamt bekundeten »zahlreiche Partner ihre Unterstützung zu Mediakraft«, heißt es in der Pressemitteilung.
Für Unge ist der Schritt, den Vertrag zu kündigen, nicht unproblematisch und auch finanziell durchaus riskant. Zum einen aufgrund der Verträge, die der 24-Jährige offenbar mit »Mediakraft« geschlossen hat. So habe ihm ein Mitarbeiter des Netzwerks gedroht, dass er »in die Privatinsolvenz gehen« würde, wenn er aussteige, sagt Unge in dem Abschiedsvideo.
Zum anderen waren die beiden Kanäle selbst aber auch finanziell äußerst attraktiv. So erhalten erfolgreiche Kanalinhaber eine entsprechende Vergütung von Google, wenn der Suchmaschinenbetreiber dort Werbung schaltet. Und die gab es aufgrund der Zuschauerzahlen reichlich zu sehen: Mehr als 30 Millionen Views erzielten »Ungespielt« und »Ungefilmt« zusammen jeden Monat. Zudem hatten die Kanäle über eine Million Abonnenten auf YouTube.
Damit können sie sogar problemlos mit digitalen Spartenkanälen im Fernsehen mithalten. Rechnet man die Zuschauerzahlen jeweils auf die einzelnen Videos um, so waren sie beispielsweise erfolgreicher als die Sendung »Neo Magazin« mit Jan Böhmermann auf ZDFneo.
Daher erzielte Unge hohe Werbeeinnahmen. Nach einer Auswertung der Website socialblade.com soll er mit »Ungespielt« und »Ungefilmt« monatlich deutlich über 10.000 Euro verdient haben. Doch damit ist Unge noch ein vergleichsweise kleiner Fisch: Einer der größten deutschen YouTuber, Erik Range, soll nach einem Bericht von »Focus Online« sogar auf bis zu 127.000 Euro pro Monat kommen.
Und Unge ist auch nicht der Einzige, der mit seinem YouTube-Netzwerk unzufrieden ist. Bereits Anfang November 2014 berichtete Stefan Niggemeier für die »Krautreporter« über die zunehmende Kommerzialisierung der YouTube-Szene, die viele Videoblogger desillusioniere.
Einer davon ist Florian Mundt, der unter dem Pseudonym »LeFloid« Videos über Politik und Zeitgeschehen veröffentlicht. Auch er trennte sich von »Mediakraft«. Sein größter Kritikpunkt an den Netzwerken ist, dass sie die Kreativität der jungen Leute zerstörten. So berichtet er, dass viele Netzwerke schnellen Erfolg versprächen, beispielsweise dass der Kanal der »nächste große, geile Shit« werde. Die Nachwuchskünstler würden »künstlich aufgepumpt und hochgezüchtet« und der Erfolg werde ihnen »künstlich eingeimpft«. Dies mache seiner Meinung nach vieles kaputt.
Mittlerweile findet etwas statt, was Niggemeier die »Emanzipation der YouTuber« nennt. Viele kehren den großen kommerziellen Netzwerken den Rücken und kämpfen entweder wieder alleine oder schließen sich mit anderen Künstlern zusammen.
Mit teilweise merkwürdigen Folgen: So berichtet der Medienjournalist, dass der Videoblogger Robin Blase, Alias »RobBubble«, bei einer Veranstaltung zunächst nicht hineingelassen wurde, weil er sagte, er gehöre keinem Netzwerk an. Nur weil einige seiner Fans ihn bereits erkannten und um Autogramme baten, wurde er schließlich doch zur Veranstaltung vorgelassen.
Überhaupt die Fans: Sie stellen mittlerweile eine echte Macht dar, wie auch »Mediakraft« zu spüren bekam. Nachdem Simon Unge sein Abschiedsvideo veröffentlichte, brach über das Unternehmen ein Shitstorm herein. Innerhalb kürzester Zeit wurden Tausende Kommentare auf der Facebook-Seite des Unternehmens veröffentlicht. Die Seite wurde deshalb vorübergehend sogar abgeschaltet. Auch andere YouTuber bekamen den Frust der Massen ab: So kritisierten viele Fans von Unge Videoblogger, die weiterhin bei »Mediakraft« unter Vertrag stehen.
Wie groß der Einfluss dieser Fans ist, macht auch ein anderes Beispiel deutlich: Als im Sommer in der NDR-Sendung »ZAPP« aufgedeckt wurde, dass etliche YouTuber auf ihren Kanälen Schleichwerbung betreiben, gab es in der Fan-Gemeinde heftige Reaktionen. Diese richteten sich aber nicht gegen die Kanalbetreiber, sondern gegen die Medien. Die YouTuber müssten ja »schließlich auch etwas verdienen«, sagten viele. Und überhaupt: Das alles sei doch gar nicht so schlimm.
Die Fans und Abonnenten der Kanäle fühlen sich dabei dem jeweiligen YouTube-Star zugehörig und verpflichtet. Es ist ein bisschen so, wie bei den Glaubenskriegen »Apple gegen Microsoft« oder »Canon gegen Nikon«. Wer etwas gegen den geliebten YouTuber sagt, bekommt von der »Community« entsprechend Gegenwind. Damit unterscheidet sich der Fan-Kult um die vermeintlichen YouTube-Stars nur unwesentlich von dem, der um »echte Promis« getrieben wird.
Das hat auch Marie Meimberg erkannt. Die YouTuberin veröffentlichte ein selbstkritisches Video, indem sie den Umgang mit den eigenen Fans kritisierte. So machten sich viele Künstler etwas vor, wenn sie meinten, dass sie mit den Fans auf Augenhöhe diskutierten. Die Abonnenten seien keine echten Freunde, viele hielten aber weiter an dieser Illusion fest.
Die Netzwerke halten diese Illusion häufig aus wirtschaftlichen Interessen weiter aufrecht. Auch deswegen kritisieren Meimberg, Mundt und Unge sie. Freilich: »Nicht alle YouTube-Netzwerke sind schlecht«, sagt Simon Unge in seinem Abschiedsvideo. »Man muss nur das Richtige für sich finden.« Bei »Mediakraft« war das offensichtlich nicht der Fall.